Lieber Sammy, dein Vater ist in den 1960er Jahren aus dem Irak nach Deutschland gekommen. Warum eigentlich?

Auf der mütterlichen Seite habe ich eine klassische Arbeiterfamilie. Väterlicherseits gibt es aber eine militärisch-akademische Familienhistorie. Der Vater meines Vaters war General, doch wollte nicht, dass seine Kids zum Militär gehen. Wobei es wahrscheinlich eher die Mutter war, die das nicht wollte, denn ich glaube, sie war die Chefin, sie war davon ab die erste weibliche Oberstudienrätin im Irak. Dazu kam, dass der Berufswunsch meines Vaters Arzt war. Also wurde ihm gesagt, er könne doch den Irak verlassen, im Ausland studieren und danach irgendwann wiederkommen. Zuerst hat mein Vater dann in der Türkei studiert. Er hat mir aber mal gesagt, dass er dort weg musste, weil es extrem viel Xenophobie und Rassismus gab. Als Iraker hat er in der Türkei kein gutes Leben gehabt. Daraufhin hat er sich Deutschland ausgesucht. Zuerst war er in Bayern und dann in Heidelberg. Da war das Leben deutlich besser und er konnte sein Studium fortführen. Seine Rückkehr in die Heimat ist später daran gescheitert, dass im Irak sein Studium nicht anerkannt worden wäre. Er hätte dort den Großteil noch mal neu studieren müssen. Das irakische System ist so, dass er am Arsch der Heide hätte beginnen müssen, um sich dann immer weiter zurück in die Hauptstadt zu arbeiten. Das war ihm nichts. Deswegen ist er in Deutschland geblieben.

Und dann ist er irgendwann in Düsseldorf gelandet.

Genau. Er hat sich als Augenarzt in Garath niedergelassen. Das ist ein südlicher Stadtteil von Düsseldorf. Dort hat er von einem Spezialisten aus Essen eine Praxis einrichten lassen. Meine Mutter war Assistenz der Geschäftsleitung. So hat mein Vater meine Mutter kennengelernt, und er fand sie sehr frech und sehr hübsch. Das ist sie heute noch.

Kommt deine Mutter aus Düsseldorf?

Nein, meine Mama ist im Taunus geboren, genauer in Eisenbach. In ihrer Kindheit kam sie nach Essen, in den Stadtteil Altenessen. Sie ist ein Ruhrpottmädchen. Eigentlich eine Mischung aus Hesse und Esse.

Campino und Sammy, Dresden Eventwerk 2010

Du wurdest dann am 22.06.1979 geboren – übrigens genau 17 Jahre später als Campino

Stimmt, er hat am selben Tag Geburtstag. Ich war die ersten beiden Jahre in Garath, dann sind wir nach Düsseldorf-Hellerhof gezogen. 1981 kam meine Schwester, damals ein kleines dickes Mädchen. Das ist sie jetzt nicht mehr. Meine restliche Kindheit und Jugend habe ich in Hellerhof verbracht und fand das auch sehr schön. Der Wald war direkt vor unserer Haustür. Hellerhof und Garath gingen fließend ineinander über, in Garath hatten wir einen Skaterplatz. Dort gab es Marokkaner, Russen, aber auch Faschos. Und keine der genannten Gruppen mochte uns, als wir kleine Punks waren. Noch schlimmer wurde es, als wir Oi!-Skins waren. Das war eine aufregende Zeit.

Jugend im Düsseldorfer Stadtteil Hellerhof: Die Broilers in den frühen 00er Jahren

Punk oder Oi!-Skin zu sein, ist ja etwas, das man sich selbst aussuchen kann. Was man sich allerdings nicht selbst aussuchen kann, ist, dass man dunkle Haare hat, weil der Vater aus dem Irak kommt. War es in deiner Kindheit Thema, dass du nicht aussahst, wie manche sich einen Vorzeige-Deutschen vorstellen? Oder wurden die Faschos erst zu einem Problem, als du Punk warst?

Die wurden erst ein Problem, als ich Punk war. Aber … (überlegt) Es war immer irgendetwas da. Und das konnte ich nicht so richtig deuten. Ein ganz unangenehmes Gefühl, als ob ich nicht genug wäre, oder mich sinngemäß länger waschen müsste. Meine Eltern haben mir dieses Gefühl natürlich nie gegeben und meine Freunde auch nicht. Gerade für Kids ist es ja völlig normal, dass alle anders aussehen. Das kam von außen, von anderen Erwachsenen. Begriffen habe ich es erst als Jugendlicher. Wenn man versuchen will, das positiv umzumünzen, hat es vielleicht zu einer Art Überkompensation geführt und mich dazu gebracht, mich immer etwas mehr anzustrengen. Nicht aufzuhören, sondern immer noch einen Step weiterzugehen und noch disziplinierter oder leidenschaftlicher an den Dingen zu arbeiten.

Und wie war es dann in der Punkszene? Die meisten Punks in Deutschland haben ja keinen Migrationshintergrund.

Absolut, das ist ganz klar. Ich kann dir aus meinen Jahren in dieser Subkultur vielleicht fünf Leute aus der NRW-Blase aufzählen, die sichtbar keine deutschen Wurzeln hatten. Das ist schon interessant. Auch bis heute ist es nicht so deutlich mehr geworden. Ich habe das Gefühl, dass die Kids mit südländischen Wurzeln straight zum HipHop gehen. Klar, es gibt Leute wie Mille von Kreator, der in die Metal-Szene gegangen ist. Er hat auch südländische Wurzeln. Ein Exot in dieser Szene.

In Düsseldorf gab es Gabi Delgado von DAF …

Genau. Mir wurde damals auch immer gesagt, dass ich aussähe wie Gabi Delgado in jungen Jahren.

Und heute wirst du dann für einen Rapper gehalten?

Tätowierer oder Rapper, ja.

Musik war dir schon als Kind sehr wichtig. Gab es noch etwas anderes, das dir in deiner Kindheit und Jugend ähnlich viel bedeutet hat?

Ich glaube, Kunst und Design. Auch wenn ich Design als Begriff damals noch nicht kannte. Der große Überbegriff ist eigentlich Fantasie. Mir meine eigenen Welten schaffen, selber was schaffen. Bei mir hat es mit den Fanzines schon angefangen, bevor ich Punk wurde. Als ich wirklich noch ein Blag war, fand ich Ferraris so toll, dass ich ein Ferrari-Magazin gemacht habe. Genau wie die Punks ihre Fanzines gemacht haben, mit Schere und Prittstift. Ich habe auch kleine Figuren gezeichnet, Vorderseite und Rückseite, und die dann ausgeschnitten. Da habe ich eine richtige Welt geschaffen, die immer größer wurde. Mit Autos und mit Häusern. Eins der Häuser war das Maniac Mansion aus dem Computerspiel. Es gab auch das Batcave, denn irgendwann kam Batman dazu. Dann gab es eine kleine Familie, das waren so Pappmänneken. Mit so etwas konnte ich mich stundenlang beschäftigen. Selber etwas kreieren.

Es hat aber sehr, sehr lange gedauert, bis ich bereit war, mir etwas an die Wand zu hängen, das ich selbst gemacht habe.

Ich habe es ja eben angerissen, dass ich mir selbst einen sehr hohen Standard gesetzt habe, bis ich etwas gut finde. Wenn dieser Standard nicht erreicht ist, mache ich mir auch nichts vor, dann will ich das nicht. Deshalb würde ich für die Broilers auch nicht selber zeichnen. Für mich wäre das nicht gut genug, was ich machen würde. Deshalb arbeite ich lieber mit Leuten, die besser zeichnen können. Typografie kann ich aber gut, das mache ich schon für uns. Es geht mir quasi darum, den eigenen Körper zu verlassen und sich selbst von außen zu bewerten. Wenn man als Kind seine eigene Stimme als Aufnahme gehört hat, war man ganz erschrocken, weil es im eigenen Kopf völlig anders klingt. Heute weiß ich aber ganz genau, wie meine Stimme aufgenommen klingt und kann das auch ganz genau bewerten.

Du hast gerade gesagt, dass du den Begriff Design anfangs noch gar nicht kanntest. Irgendwann kanntest du ihn aber und dann war es für dich auch eine Option, Designer zu werden. Schließlich hast du Kommunikationsdesign studiert. Wie kam es dazu?

Es gab in der Schule damals so eine Art Projektwoche. Da wurden verschiedene Berufe vorgestellt. Ich erinnere mich, dass sich im Musikraum eine Werbeagentur vorgestellt hat. Ich war direkt sehr euphorisch. Das war in der neunten oder zehnten Klasse, wenn man schon auf dem Weg ist zum fertigen Menschen. Ich habe ganz aufgeregt mitgeschrieben und ganz viele super-peinliche Sachen gefragt. Ab da war mir klar, dass ich auf jeden Fall Design machen und in die Werbung gehen wollte. Ich habe dann zwei Praktika gemacht, die ich aber nicht so gut fand. Das eine war in einer Siebdruckerei und das andere in einer Business-to-Business-Agentur, was das Langweiligste auf der ganzen Welt ist. Ich hatte aber keine alternative Idee, was ich beruflich machen könnte. Also habe ich Kommunikationsdesign studiert, um mich möglichst schnell selbstständig zu machen. Was ich dann auch getan habe. Ich hatte für befreundete Bands Designs gemacht und irgendwann habe ich dann mit zwei Studienkollegen ein Büro gemietet. Das war übrigens bis vor kurzem noch unser Broilers-Büro, direkt über unserem Proberaum. Da habe ich auch ein paar Business-Sachen gemacht, für ein Klamottenlabel und so. Parallel dazu hat mein Studium aber superlange gedauert. 18 Semester, das waren neun Jahre. Fürchterlich. Ich glaube, 2010 sind wir dann Berufsmusiker geworden, da ist das Design-Dienstleistungszeug in den Hintergrund gerückt. Ich hatte keine Zeit und auch keinen Bock mehr. Warum sollte man diese Dienstleistungen machen, wenn man das Glück hat, in einer Band zu spielen … Allerdings könnte ich mir vorstellen, später als alter Sack junge Menschen zu unterrichten. Einen Lehrauftrag fände ich ganz gut. Um das bescheidene Wissen, das ich in manchen Bereichen habe, weiterzugeben.

Die Broilers gab es während deiner Zeit als Student und Designer immer nebenbei.

Genau. Aber zu der Zeit war es keine realistische Ambition, dass das mal der Hauptberuf wird. Als wir mit zwölf Jahren anfingen, gab es natürlich die Fantasie, dass wir die größte Band der Welt werden. Wie Kinder so sind. Aber je mehr wir dann zu diesem Oi!-Punk-Irgendwas kamen, desto unwichtiger wurde das. Weil es in dieser sub-subkulturellen Szene nichts Verwerflicheres gibt, als Erfolg zu haben. Dementsprechend waren solche Gedanken jahrelang meilenweit weg – bis wir erneut die Ambition entwickelten, die größte Band der Welt zu werden. Diese Ambition haben wir aktuell wieder (lacht).

Ihr habt wirklich mit zwölf angefangen? Ab wann war das kein Kinderspiel mehr, sondern eine richtige Band?

Ja, Andi und ich haben 1991/1992 angefangen. Davor war ich alleine eine Band. Aber das war eher so wie diese Batman-Welten, die ich auf Papier gemalt habe. Ich glaube, das sollte HipHop sein (schmunzelt). Der Bandname war Funky Fuckers (lacht). Danach ging es mit Andi los und wir nannten uns Die Jünger. Andi und ich haben uns übrigens in dem besagten Musikraum unserer Schule kennengelernt, in dem diese Werbeagentur sich vorgestellt hatte. Jedenfalls kam dann der erste Broilers-Bassist dazu, damals noch als Sänger. Da hießen wir Die Zumutung. Das war ganz klar Deutschpunk, die Vorbilder waren die ganzen Schlachtrufe BRD-Sampler. Eine richtige Band waren wir aber erst ab 1994, als wir die Broilers wurden. Von da an haben wir regelmäßig geprobt. Dass richtiger Betrieb reinkam, hat noch mal drei Jahre gedauert. 1996 kam die erste Single, damals auf dem Label Scumfuck Tradition. Das war das Label von Willi Wucher von Pöbel & Gesocks. Mit der Single haben wir auch das erste Konzert gespielt. In einer griechischen Kneipe in Krefeld. Backgammon hieß diese Kneipe.

1996 kam die erste Single...

Wieso in einer griechischen Kneipe?

I don’t know. Das war damals die einzige Möglichkeit. Eine griechische Kneipe, ebenerdig. Es haben noch die Krefelder Bands Bash! und Pure Impact gespielt. 1997 kam dann der erste Longplayer raus, „Fackeln im Sturm…“. Ich würde sagen, damit begannen so langsam die Konzerte.

Als Punks und später Oi!-Skins müsst ihr Anfang und Mitte der Neunziger auf eurer Schule totale Außenseiter gewesen sein.

Ja, klar. Ich glaube, in der Oberstufe gab es noch zwei oder drei Leute im Punk-Style. Damals trug man diese langen Mäntel, wie im Breakfast Club. Und in unserer Stufe gab es Ronald, aber der ist mir erst später aufgefallen, als wir schon nicht mehr auf dem Gymnasium waren. Als Andi und ich 1992 Die Jünger waren, gab es schon einen kleinen Groupie-Stamm um uns herum. Das waren drei Mädchen, die gesagt haben, wow, Andi und Sammy haben eine Band, Gitarre und Schlagzeug, cool! Und bei diesen Mädchen war auch Ines dabei. Die haben alle drei das gleiche T-Shirt getragen, so ein gebatiktes Shirt mit einem Foto von uns vorne drauf (lacht). So fing das an.

Haben Die Jünger Aufnahmen gemacht?

Es gab Aufnahmen von Die Morbiden Jünger-Jünglinge, kurz: Jünger. Die wurden aber nie veröffentlicht. Die Aufnahmen gibt es auch immer noch.

Gibt es eine Chance, dass diese Aufnahmen irgendwann mal veröffentlicht werden? Das erste Broilers-Demotape habt ihr 2017 ja auch der „(sic!)“-Fanbox beigelegt.

Hmmm … Ich kann mir vorstellen, dass das irgendwann mal veröffentlicht wird. Irgendwie als Bonus. Aber im Moment … (seufzt) Im Moment müsst ihr einfach mit der Fantasie leben, wie der Song „Fickende Lehrer“ wohl klingt.

1994 seid ihr von Punk auf Oi! geswitcht. Genau zu der Zeit, als Punk durch Green Day und Offspring eine neue Popularität bekam. Bei Oi! konnte von Popularität aber keine Rede sein. Das erinnert ein bisschen an die Geschichte der Toten Hosen. Als diese sich 1982 als Punkband gegründet haben, hat keiner verstanden, was das sollte, weil das Thema Punk überhaupt nicht mehr angesagt war.

Ja, total. Aber uns hat überhaupt nicht interessiert, was cool oder modern ist. Wir haben in unserem eigenen Kosmos gelebt und selber definiert, was für uns cool ist. Wir haben uns komplett in diese Subkultur verliebt. Irgendwann sind im Haus der Jugend, unserer Stamm-Konzert-Location in Düsseldorf, Skinheads aufgetaucht. Und ich dachte, ach du Scheiße, was wollen die Nazis hier. Und dann sagte jemand, Alter, das sind keine Nazis! Das sind Oi!-Skins! Das sind SHARP-Skins! Ich bekam es erklärt und konnte es nicht glauben. Was hören die? Reggae?!? Instant love. Die Klamotten. Total provozierend mit den Bomberjacken. Dann diese smarten Taschentuchhemden, die aussehen wie eine Tischdecke. Hosenträger. Dazu das Derbe mit den Stiefeln, die ich als Punk auch schon geliebt hatte. Und dann diese elegante Musik, die gute Laune macht: Reggae. Und auch noch eine gute Attitüde – nämlich Antirassist zu sein. Das hat uns total abgeholt. Diese neue Form der Provokation war ein neues High für Andi und mich. Total aufregend. Ich meine, mit 14, 15 oder 16, was willst du? Du willst provozieren. Aber das konnte man damals als Punk nicht mehr. Als Skin empörten sich die Lehrer wieder darüber, wie wir aussahen. Zuhause gab es auch Rabatz. Ich musste mehrmals ganz intensiv erklären, was das alles soll. Mein Vater wurde von Patienten angesprochen, was mit seinem Sohn los wäre. Der würde rumlaufen wie die Skins in Solingen und Mölln. Das war damals in Deutschland die Zeit, Mitte der Neunziger (als Naziskins rassistische Morde und Brandanschläge an den genannten Orten verübten, Anm. d. Red.).

Wie muss man sich die damalige Oi!-Szene vorstellen?

Die Punk- und die Oi!-Szene ist in Nordrhein-Westfalen total ineinander übergegangen, da gab es keine Differenzierung. Aber manche Bands waren attraktiver für Skins, andere eher für Punks. Und es gab auch Bands, die eine unangenehme Schnittmenge in andere Bereiche hatten. Als Cock Sparrer damals eine Tour spielten, die mal wieder ihre letzte sein sollte, gab es viele epische Schlägereien. Andi und ich waren bei einem Konzert in Oberhausen, da waren auch ein paar Faschos am Start. Wir haben an dem Abend Cock Sparrer nicht mal gesehen, weil wir den Zug zurück nach Düsseldorf kriegen mussten. So jung waren wir. Wir haben nur die Vorband Stage Bottles gesehen. Aber das war aufregend genug für uns. Ende der Neunziger sind wir dann mit den Broilers häufiger in den Osten der Republik gefahren, das wurde unser neues Zuhause.

Wir haben hauptsächlich im Osten gespielt – in Düsseldorf wollte uns niemand sehen oder hören.

Die Leute vom Conne Island in Leipzig gehörten zu den ersten, die uns eine Chance gegeben haben. Auch der Rosenkeller in Jena oder der Club Südstadt in Cottbus. Dadurch, dass die Szene so klein war, hat man sich gegenseitig unterstützt. Das war sehr hilfreich.

Wie war zu der Zeit euer Standing in der Szene?

In den Fanzines waren die Reviews zu unserem ersten Longplayer durchaus positiv. Es hieß, dass wir eine Band seien, von der man noch viel hören werde. Wir waren sehr junge, großschnäuzige Kids, die plötzlich in dieser sehr überschaubaren Szene auftauchten, eine Platte veröffentlichten und auf dicke Hose machten. Mein damals massiver Gröl-Gesang hat auch nicht sofort enttarnt, wie jung wir waren. Anhand mancher Texte hat man das aber gemerkt. Wobei manches gar nicht so schlecht war, dafür dass ich bei der Single erst 15 oder 16 war und beim Longplayer 17. Einige Wortwendungen finde ich heute noch interessant. Es gab aber auch Lieder, die ich heute nicht mehr spielen würde.

"Wir waren sehr junge, großschnäuzige Kids, die plötzlich eine Platte veröffentlichten und auf dicke Hose machten"

Welche denn?

Naja, ein Lied hieß „Kelly Fammelly“, das brauche ich heute nicht mehr in der Setlist. Zum einen sind die Kellys als Feindbild nicht mehr interessant, zum anderen war das einfach pubertärer Humor. Dann gab es ein Lied namens „Suff dich voll“. Da habe ich zitiert, was mal auf einem Bierdeckel in der Düsseldorfer Kneipe Uerige stand: „Suff dich voll und ess dich dick, halt dein Maul von Politik!“. Das hat dann ja nicht so gut geklappt, dass ich mein Maul halte (lacht dreckig).

Du sprachst deinen grölenden Gesang auf euren ersten Platten an. Hast du eigentlich irgendwann ganz bewusst versucht, ein bisschen, nun ja, schöner zu singen? Dein Gesang hat sich ja mit den Jahren stark verändert.

(überlegt) Ich glaube, entscheidend war 2004 das Album „LoFi“. Eigentlich eine gute Platte, aber ich kann sie selber nicht mehr anhören. Meine Stimme hatte da einen Punkt erreicht, da kommt mir die Kotze hoch. Das Problem war, dass ich einerseits noch diesen Schutzpanzer Gröli-Gröli hatte, durchaus mit Knödel dabei. Andererseits habe ich aber ganz andere Musik gehört. Zum Beispiel Tiger Army, deren Sänger eine sehr hohe Stimme hat, die gerne mal umkippt, ähnlich wie bei Hank Williams. Oder Bands wie Rancid und Social Distortion, die zwar auch raue Stimmen haben, aber deutlich klarer. So etwas wollte ich dann auch einbringen. Aber in Verbindung mit meinem Knödel-Gröl-Gesang kam dabei etwas heraus, das heute für mich unhörbar ist. Außerdem haben wir damals immer mehr Konzerte gespielt, und dieses Grölen, das nicht gelernt war, hat meine Stimme sehr angegriffen. Ich war ständig heiser und konnte Konzerte teilweise nicht mehr zu Ende spielen oder nur noch krächzen. Das hat mich dann zum Umdenken gebracht. Ich habe mit meinem damaligen Stimmeinsatz nicht das hingekriegt, was ich wollte – nämlich mal eine Melodie zu singen und gewisse Noten zu erreichen, ein bisschen emotionaler zu singen. Deswegen setzte dann der Prozess ein, dass ich mich immer mehr getraut habe, meine Stimme so zu zeigen, wie sie ist. Das begann 2007 mit der „Vanitas“. Da waren noch Aspekte von dem Gröli-Gröli drin, aber die Stimme wurde immer natürlicher. Jetzt gerade ändert sich meine Stimme wieder ein bisschen. Ich glaube, das ist generell beim Menschen so, dass sich alle sieben oder acht Jahre der Körper verändert.

Wie findet denn die heutige Oi!-Szene die Broilers? Kriegst du das mit?

Es ist immer das gleiche Spiel. Wenn eine neue Platte erscheint, geht es ab. Wir haben gerade „Alles wird wieder Ok!“ veröffentlicht, die zweite Single unseres neuen Albums „Puro Amor“. Ein sehr ruhiges Lied, das stark beeinflusst ist von 80s Wave oder 80s Pop und durchaus in die Richtung von The Cure schielt. Oder Angelic Upstarts und Blitz, wenn die poppige Sachen gemacht haben. Darüber ist jetzt eine hochgradig interessante Diskussion entbrannt, bei der sich im Internet ein paar alte Skins mit dem Nachwuchs prügeln. Die neue Szene ruft „Schlager!“, während die alte Szene versteht, woher das alles kommt. Die Alten verteidigen uns und sagen den jungen Leuten, dass sie das das damals nicht miterlebt haben und gar nichts über die Wurzeln der Bands wissen. Ich glaube, insgesamt interessiert sich die gegenwärtige Oi!-Szene nicht mehr so für die Broilers, weil wir sehr weit weg sind von dem, wie Oi! aktuell ist. Aber es gibt auch Leute, vor allem die etwas älteren, die uns unseren Weg gönnen und sagen, die Jungs und das Mädel sind ehrlich und gerade geblieben. Manche sind sogar Fans und kommen zu unseren Konzerten. Das ist ein sehr schönes, großes Kompliment.

Ende der 2000er wurden die Broilers immer erfolgreicher. Du hast damals T-Shirts für die Toten Hosen designt und JKP-Geschäftsführer Patrick Orth war ganz überrascht, als er mitbekam, dass ihr in Düsseldorf das Stahlwerk ausverkauft habt. Obwohl ihr große Konzerte gespielt habt, fand das gewissermaßen unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Den meisten Leuten wart ihr kein Begriff.

Wir waren, und sind es immer noch ein bisschen, die erfolgreichste unbekannte Band des Landes.

Das ändert sich natürlich zunehmend. Das angesprochene Konzert im Stahlwerk war im Jahr 2008. Da passen vielleicht 2500 Leute rein und es war lange im Vorfeld ausverkauft. Trotzdem waren wir noch so in dieser Subkultur, dass man das gar nicht mitbekommen hat, wenn man nicht selbst in diesem Bereich unterwegs war. Medien außerhalb der Szene haben sich nicht dafür interessiert. Es lag natürlich auch an dieser Skinheadnummer – das war nichts, was Lieschen Müller lesen möchte. Lieschen Müller kennt Skinheads nur als diejenigen, die Molotowcocktails in Flüchtlingsheime werfen. Die will nicht hören, dass da irgendetwas mit Reggae ist. Als Nächstes haben wir in Düsseldorf dann in der Philipshalle gespielt, da passen 7.500 Leute rein. Und das hat sich in extrem kurzer Zeit zweimal ausverkauft. Es ging stetig nach oben. Manchmal gab es auch mal größere Steps, dann wurden zwei Stufen übersprungen. Ich glaube, dass diese Art von Wachstum sehr gesund ist. Es tat uns gut, dass wir so lange unter dem Radar liefen. Als Menschen hat uns das gefestigt und am Boden gehalten. Außerdem hat es sicherlich dafür gesorgt, dass wir eine sehr starke Fanbindung haben. Bei den Toten Hosen ging es zum Beispiel durchaus schneller. Die sind meines Erachtens schneller aus dem Underground rausgekommen.

Foto Jessica Wollstein

Dein erstes Interview für diese Rubrik ist vor ziemlich genau zehn Jahren erschienen. Damals wart ihr gerade mit „Santa Muerte“ auf Platz 3 gechartet – zu dem Zeitpunkt euer größter Erfolg. Was war das für eine Zeit?

Das war eine ganz tolle Zeit. Nicht zuletzt, weil ich meine Freundin damals kennengelernt habe, mit der ich heute noch zusammen bin. Mit den Broilers hat zu der Zeit die ganze Arbeit, die wir jahrelang hatten, Früchte getragen. Vorher waren wir in der Schule gewesen, hatten unser Taschengeld zur Seite gelegt, später dann irgendwie versucht, selbst Geld zu verdienen und uns den Feierabend vom Mund abgespart. Ich als Grafiker, Ines in einem ganz normalen festen Erwachsenenberuf als Gestaltungstechnische Assistentin. Und dann wurde die Band plötzlich in professionelle Bahnen gelenkt. Mit dem Booking hatte es angefangen, dann hat JKP unser Management übernommen. Das hat enorm viel erleichtert. Das war einer dieser Steps, der direkt zwei Stufen genommen hat. So etwas wie Charts war vorher kein Thema für uns, das war unfassbar weit weg, da waren Dieter Bohlen und der schöne Thomas Anders. Und dann sind wir auf einmal da reingekommen. Dann gab es die erste Goldplatte … da ging eine ganz neue Welt auf.

Das erste Mal Gold, das erste Mal Westfalenhalle.

Foto Jessica Wollstein

Was hat sich in den letzten zehn Jahren noch verändert?

Es wurde stetig größer. Größer und zugleich schöner. Eine große Veränderung ist sicherlich die komplette Selbständigkeit mit unserem eigenen Label Skull & Palms Recordings, mit dem wir nun unsere Platten veröffentlichen. Auch ist unser ganzer Backkatalog zurück an uns gefallen. Wir können selber schalten und walten, wie wir wollen. Ich glaube, wir sind auf eine gute Weise erwachsen geworden. Wir trauen uns viel mehr, nein zu sagen. Wenn wir etwas nicht richtig finden, diskutieren wir nicht mehr lange, oder lassen nicht mehr lange mit uns diskutieren. Weil wir sehr gut wissen, wer wir sind, was wir wollen und was es am Ende wert ist. Wir wollen keine Bauchschmerzen haben und jeden Morgen in den Spiegel schauen können. Die Freundschaft innerhalb der Band ist immer noch etwas Schönes. Egal, wie oft wir uns zur Probe treffen, auch wenn es täglich ist: Bevor wir loslegen, wird erst mal eine Stunde gequasselt. Das ist etwas Besonderes. Das hat sich nicht verändert und das ist gut.

Die Alben der Broilers sind von Beginn an mit einem relativ langen Abstand von drei oder vier Jahren erschienen. Andere Bands veröffentlichen erst im späteren Verlauf ihrer Karriere in einem solchen Turnus. Ohne Salz in eine Wunde streuen zu wollen: Woran liegt das?

Das liegt an mir. Ich bin der Songwriter, ich schreibe alle Lieder. Musik und Text. Mehr kommt bei mir halt nicht raus. Normalerweise touren wir ein bis zwei Jahre, nachdem wir ein Album veröffentlicht haben. In der Zeit schreibe ich gar nichts. Nach der Tour muss ich dann erst mal wieder Sachen erleben, über die es sich zu schreiben lohnt. Offenbar dauert das insgesamt drei bis vier Jahre. (zählt alle Erscheinungsjahre der Broilers-Alben auf und rechnet nach) Ja, ist so (lacht).

Eigentlich ein Gegenmodell zur heutigen Musikwelt, in der die Tendenz immer mehr dahin geht, viel schneller und öfter zu releasen. Offenbar habt ihr euch da freigeschwommen.

Ja, wir haben uns wirklich freigeschwommen. Im HipHop ist das ja zum Beispiel noch mal eine ganz andere Nummer, da ist dieses One-Track-Business extrem wichtig.

Könntest du dir das auch vorstellen, dass ihr nur noch einzelne Songs auf die Streamingplattformen stellt, wenn Alben irgendwann keine Rolle mehr spielen?

Nein. Extrem ungern. Darauf würde ich gerne verzichten. Ein Album ist so wichtig für mich. Das ganze Paket, da gehört das Design absolut gleichberechtigt dazu. Ich möchte das riechen. Das erzählt eine Geschichte. Wenn ein Album einer Band, die ich liebe, erscheint, hole ich mir etwas zu trinken, ziehe mir Kopfhörer auf und bin 45 Minuten lang weg. Ein Album ist eine Kunstform. Es geht auch darum, in welcher Reihenfolge die Songs kompiliert sind. Bei unserem neuen Album haben wir uns dabei wie immer etwas gedacht: Wenn du mit „An allen anderen Tagen nicht (Lebe, du stirbst!)“ durch bist, also dem letzten Lied der Platte, dann hast du vielleicht eine Träne im Knopfloch, weil das ein trauriges Lied ist. Und dann kannst du es wieder von vorne hören. Ich bin ja zuhause mit meinem Büro nach oben gezogen (auf den berüchtigten Dachboden, Anm. d. Red.) und habe dort meine Anlage aufgebaut. Ich habe jetzt mein kleines CD-Zimmer und höre Musik wieder anders. Das hatte ich verlernt in der Zeit, als unten Wohnung und Büro zusammen waren. Mit den ganzen Sonos-Boxen, Spotify, Apple Music … Es lief den ganzen Tag Musik aus allen Lautsprechern. Meine Freundin ist durchgedreht. Aber ich habe die Musik fast nur noch nebenbei gehört. Nun ist es so, dass ich mir eine CD auflege und … boah, das klingt tausendmal besser!

Dann ist es jetzt wohl an der Zeit, über euer neues Album „Puro Amor“ zu reden. Hat das Album deiner Meinung nach einen roten Faden?

Das neue Broilers-Album "Puro Amor"

Ich glaube, es wurde tatsächlich aus Versehen ein Konzeptalbum. Das Ding heißt „Puro Amor“ und man findet auch in fast jedem Lied Liebe. Liebe ist der Überbegriff. Selbst ein Song wie „Alice und Sarah“ ist ein Liebeslied. Da ist ein Paar, und die eine findet es nicht gut, was die andere für Scheiße von sich gibt.

Man könnte denken, dass es sich bei Alice und Sarah um eine bekannte Politikerin und ihre Partnerin handelt. Gibt es Anhaltspunkte aus der Realität, dass es in dieser Beziehung wirklich Unstimmigkeiten geben könnte, hinsichtlich der Standpunkte von Alice?

Nein. Das ist eine komplette Fantasie. Ich hoffe es, doch ich weiß es nicht. Auf dem Album geht es aber um Liebe in allen Formen, von den tollen bis zu den schmerzhaften und grausamen Momenten. Sogar „Porca Miseria“, ein Lied, das eigentlich vom Scheitern der Europäischen Union handelt, kann man als Liebeslied sehen. Ein Lied über Trennung.

Das andere große Thema der Platte ist Verlust, oder?

Ja. Das wird leider nicht weniger. Irgendwann wurde der Schalter umgelegt, dann ging es los und die Einschläge kamen näher. Sehr, sehr nah. Und es nimmt mich sehr mit, wenn ich jemanden vermisse. Darüber zu schreiben, hilft mir.

Man kann generell über die Musik der Broilers sagen, dass sie eine gewisse Schwermütigkeit ausstrahlt.

Ja. Das kann man auch über mich sagen. Das ist tatsächlich so.

Bist du privat ein positiverer Typ, als es in deiner Musik rüberkommt?

Hmmm … (überlegt) Ich liebe es, gute Laune zu haben. Und ich genieße auch eine gute Party. Es gibt Momente, in denen ich so lache, dass ich ein bisschen aussehe wie eine Eidechse oder ein lustiger Hase. Und das finde ich auch total lustig und wichtig. Aber ansonsten kann ich auch ganz gut ruhig sein und eher am Rand stehen. Je älter ich werde, desto besser kann ich das. Diese Schwermut … ich glaube, die vererbt sich tatsächlich. Wenn meine Mama an ihren Papa denkt, dann hat sie ein bestimmtes Bild vor Augen: Nachdem er aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekommen war, stand er die ganze Zeit am Fenster. Er stand da jeden Tag, hat aus dem Fenster geguckt und geraucht. Ganz still. (überlegt) Ich glaube, ich bin sehr sensibel. Das sind wahrscheinlich viele Künstler. Um mit gewissen Dingen besser umgehen zu können, hilft es mir, sie mir von der Seele zu schreiben.

"Ich liebe es, gute Laune zu haben. Und ich genieße auch eine gute Party."

Foto Robert Eikelpoth

Du hast auch mal gesagt, dass du deine Texte eher schreibst, wenn du schlechte Laune hast.

Ja. Wenn ich gute Laune habe, möchte ich ja die gute Laune genießen. Dann möchte ich Party machen, oder etwas Schönes tun …

Moment, ist es denn nichts Schönes, Texte zu schreiben?

Doch, natürlich ist das auch etwas Schönes. Vor allem, wenn ich in diesem Kreativ-Tunnel bin. Das ist eine extrem geile Zeit. Dann laufe ich aufgeregt durch die Wohnung, bin aufgekratzt, denke in Reimen. Bis dann wieder die nächste Zoom-Konferenz mit der Band und dem Manager ansteht und alles in sich zusammenbricht (lacht).

Magst du wirklich keine lustige oder fröhliche Musik?

Ich liebe traurige Moll-Akkorde. Ich brauche Moll-Akkorde. Ich schreibe durchaus immer wieder mal Dur-Sachen, auch für das neue Album. Aber meistens bleiben die nicht lange stehen. Da kommt dann irgendein Störer rein. Es war schon immer so. Wenn ich an die Musik denke, die mich als Kind und als Jugendlicher abgeholt hat, dann waren das alles Sachen, die Pathos hatten und eine gewisse Dunkelheit oder Traurigkeit ausgestrahlt haben.

"Ich brauche Moll-Akkorde"

Foto Tobias Witte Fotografie

Wobei euer neues Album durchaus lustige Momente hat. Zum Beispiel, wenn du dich in „Diktatur der Lerchen“ selbst als „das dumme Schwein, das um elf Uhr noch schlief“ bezeichnest.

"Wir sind die lustige Band mit den traurigen Liedern"

Als ich das geschrieben habe, musste ich selber kichern (schmunzelt). Ich habe letztens in einer dieser Zoom-Konferenzen gesagt, wir sind die lustige Band mit den traurigen Liedern. Das trifft es ganz gut. Wir können tipptopp miteinander rumalbern. Manchmal wird es wirklich schmerzhaft albern. Ich finde es auch wichtig, dass man auf diesen verschiedenen Hochzeiten tanzt. Es kommt vor, dass wir bei Broilers-Konzerten Momente haben, die so albern sind, dass unser Manager Patrick Orth am Rand steht und sich denkt, (macht ein Würggeräusch), oh Gott, was tun die da? Und drei Minuten später sind wir dann plötzlich an einem Punkt, bei dem die ganze Halle weint. Weil auf einmal alle traurig sind und an die denken, die sie vermissen. Diesen Spagat kriegen wir hin, das klappt bei uns. Bands, die primär lustig sind, haben vielleicht Schwierigkeiten, diese Balance zu finden. Wenn sie es überhaupt wollen.

Sammy mit Broilers-Manager Patrick Orth, Backstage in Düsseldorf 2012

Foto Christian Thiele

In eurem aktuellen Pressetext ist die Rede von „Pathos“ und „Kitsch“. Ihr benutzt diese Begriffe als Selbstbeschreibung. Kitsch ist ja landläufig eher negativ behaftet, Pathos nicht so eindeutig … Was bedeuten dir diese Stilmittel?

Ich persönlich finde Kitsch nicht negativ. Ich sammle viel Scheiße, bei mir steht viel kitschiges Zeug rum. Wir haben in der Fanbox zum Album auch eine Grabkerze und einen Wandteppich drin. Bei mir zuhause hängt ein Wandteppich, ich habe überall Marienfiguren und Grabkerzen. Gerade die christliche Ikonografie, das ist doch eigentlich Kitsch. Wenn man es richtig nutzt, kann Kitsch ganz toll sein. Für mich ist das primär etwas Optisches, aber es gibt auch in der Musik diese Momente. Als ich in diesen Pressetext das Wort Kitsch geschrieben habe, dachte ich tatsächlich an „An allen anderen Tagen nicht“, was ein sehr trauriges, persönliches Lied ist, das ich für zwei verstorbene Freunde geschrieben habe. Je nachdem, in welcher Stimmung ich bin, kann ich das nicht hören, ohne Pipi in den Augen zu haben. Da kommt ja auch dieses Glockenspiel rein – das ist etwas, das Bruce Springsteen auch viel macht.

Aber ist das wirklich Kitsch? Oder nicht doch eher Pathos?

Vielleicht habe ich auch Kitsch geschrieben, um mich abzusichern. Um den Kritikern das, was sie gerne schreiben wollen, im Mund umzudrehen. Wir Deutschen haben ein Problem mit Pathos. Das liegt sicherlich an unserer Vergangenheit. Aber es liegt auch an diesem ganzen supercoolen, ironischen Wichszeug. Ironie geht mir voll auf den Sack, finde ich unfassbar anstrengend und nervig. Weil Ironie immer bedeutet, dass man sich schön rausretten kann aus allem, was man gesagt hat. Man steht für gar nichts. War doch nur Ironie. Der ironische Hipster-Schnurrbart, die ironische Anmerkung. Die Broilers sind da verhältnismäßig ernst und deswegen finden uns auch viele Leute echt kacke. Aber warum sollte ich, wenn mich persönlich Pathos in Serien oder Filmen abholt, dieses Stilmittel nicht auch selber nutzen für meine Kunst? Ich habe früher Wrestling gut gefunden! Nimm den Film „Die Verurteilten“ mit Denzel Washington und Tim Robbins: Wie toll, wie gut, dass dieser Film, der sicherlich der beste Film aller Zeiten ist, dieses Ende hat! Er hat ein positives Ende. So etwas trauen sich viel zu wenige. Klar ist es ein schmaler Grat, aber in der Musik möchte ich das auch haben.

Wenn ich doch selber Musik höre, bei der mir der Refrain das Herz bricht, weil er mich so berührt – warum sollte ich mir das verbieten?

Weil ich Deutscher bin? Sehe ich nicht. Je nachdem, welche Worte man wählt, kann man das auch nutzen als deutsche Band. Hilfreich ist es für mich oft, Störer reinzubringen. In der Optik, aber auch in den Texten. Ein Störer könnte zum Beispiel ein Schimpfwort neben einem ganz kitschigen Wort sein. Herzschmerz, dummes Schwein. Auf einmal klingt es gut! Die heilige Dreifaltigkeit (lacht).

Foto Tobias Witte Fotografie

Holst du dir viel Inspiration aus Filmen? Was inspiriert dich noch?

Ich lese sehr viel. Ich schaue viele Filme und Serien, aber im Moment weniger, weil ich nicht so viel Zeit habe. Dann lese ich abends eher, um runterzukommen. Was mich vor allem in der Mittelphase der Broilers beeinflusst hat, war die Videospielreihe Grand Theft Auto. Denn Details sind mir unfassbar wichtig. Darüber streite ich immer mit Patrick Orth. Er kapiert nicht, dass Details das Allerwichtigste sind und nennt es „in Schönheit sterben“ (äfft Patrick nach) … Ansonsten beeinflusst mich alles, was ich an Eindrücken aufnehme. Der Spaziergang, die Kommunikation mit Menschen. Deswegen war es im ersten halben Jahr der Pandemie auch schwierig für mich, weiter zu schreiben. Weil ich nicht mehr draußen war und dort nichts mehr wahrnehmen konnte. Dementsprechend sind mir auch die Ideen ausgegangen, das war schwierig.

Auf eurem neuen Album gibt es ein Lied namens „Nicht alles endet irgendwann“ – ein Song über das Älterwerden. Hier kann man erneut eine Parallele zu den Toten Hosen ziehen. Die haben, als sie ungefähr so alt waren, wie die Broilers es jetzt sind, einen Song namens „Graue Panther“ gemacht, der ebenfalls vom Älterwerden handelte. Euer Song ist allerdings ein bisschen pathetischer (Gelächter). Ist es so ein großes Thema für dich, dass du nicht mehr der Jüngste bist?

Ich bin selber teilweise verwundert darüber, dass mit „Nicht alles endet irgendwann“ und auch „Dachbodenepisoden“ diese retrospektiven Sachen auf dem Album sind. Bei der „(sic!)“ (er spricht es „sitschi“ aus) waren auch schon ein paar retrospektive Nummern drauf. Es hat vermutlich damit zu tun, dass ich jetzt 41 bin … (überlegt) Ich habe aber nicht das Gefühl, darunter zu leiden. Ich verspüre in keiner Weise eine Midlife Crisis. Vielleicht liegt es eher an dem, was ein bisschen von außen kommt, was andere sagen. Aber es gibt auch den Moment, wenn ich mit meiner Virtual Reality-Brille Playstation spiele. Am Anfang gibt es immer dieses kurze Check-up, bei dem man sich selbst im Fernseher sieht, um zu gucken, ob Gegenstände in der Nähe sind. Damit man nichts umwirft. Und ich muss jedes Mal darüber lachen, wie ich auf dem Wohnzimmerteppich sitze: Im Schneidersitz, an die Couch angelehnt, in Jogginghose und Socken, mit dieser Brille auf. Dann denke ich mir, „Alter, du bist 41 Jahre alt, aber jetzt wird geballert!“ (lacht).

In „Diktatur der Lerchen“ singst du darüber, dass du ein Nachtmensch bist. Das wurde mir auch noch mal klar, als ich zuerst wagemutig vorschlug, dass wir uns für dieses Gespräch hier morgens verabreden.

(lacht) Ich bin ja total dankbar, dass ich diesen Beruf habe, bei dem ich ohne Wecker aufstehen kann.

Mir wurde jedenfalls gesagt, dass du vor 13 Uhr nicht zu gebrauchen bist. Wie machst du das, wenn du für Promotermine oder Videodrehs früh aufstehen musst?

Ich verlege das dann. Ich muss jetzt tatsächlich nur ein einziges Mal sehr früh aufstehen, und zwar bei MOMA, dem Morgenmagazin, das nicht ohne Grund so heißt. Ansonsten werden die Termine so gelegt, dass ich funktioniere. Wer sich da mit mir duellieren will, dem biete ich gerne an, dass wir um 1 Uhr nachts sprechen können. Damit habe ich kein Problem.

Warum ist es denn nachts besser?

Ich weiß nicht, ob das in Genen liegt – meine Mutter ist auch nachtaktiv. Vielleicht war das auch einer der Gründe, warum ich die Schulzeit nicht so sehr geliebt habe. Da musste ich früh aufstehen und dann auch noch funktionieren und Sachen hören, die mich nicht interessierten, zusammen mit Menschen, die ich nicht mochte. Ich kann aber ein paar Tage lang die morgendliche Stadt durchaus genießen. Ich finde den Sommermorgen gut, das riecht in einer gewissen Weise, die Stadt wird langsam wach. Aber auf Dauer würde ich mich nicht umstellen wollen. Denn noch mehr ist es mir wert, wenn die Stadt langsam schläft und ich hier obsiege in meinem kleinen Elfenbeinturm in der sechsten Etage in der Innenstadt.

"Ich hoffe, dass ich noch lange das Glück haben werde, so weiterzumachen" - Die Broilers im Frühjahr 2021

Foto Robert Eikelpoth

Es wirkt so, als hättest du dich selbst und dein Leben genau so gestaltet, wie du das willst. Zum einen dich selbst als Person, weil du zum Beispiel gerne ins Fitnessstudio gehst und stark tätowiert bist. Zum anderen hast du dir auch deine Lebensumstände für dich perfekt eingerichtet: Du stehst auf, wann du willst, kannst dich mit deiner Musik verwirklichen …

Total. Das ist eine ganz akkurate Zusammenfassung. Jeder Mensch hat ja in gewisser Weise die Möglichkeit, sich zu gestalten. Und ich muss es auch noch mal unterstreichen, dass die große Freiheit, die ich in meinem Beruf habe, ein ebenso großes Glück ist. Auch wenn es nicht umsonst ist – die Selbstständigkeit bringt immer Risiken mit sich. Man hat nicht die Sicherheit, die man hat, wenn man irgendwo angestellt ist. Und man hat Verantwortung gegenüber anderen Mitarbeitern. Aber ich bin wirklich sehr glücklich damit. Ich kann es mir nicht mehr anders vorstellen. Und ich hoffe, dass ich noch lange das Glück haben werde, so weiterzumachen.

Vielen Dank für das Gespräch!